TR-Adventskalender #20

#20: Audrey

Das erste Mal, dass ich getrampt bin, war im Sommer 2011. Ich kam gerade als französische Austauschstudentin in Kiel an. Durch Couchsurfing habe ich ein paar wirklich coole deutsche Hippies kennengelernt, die bei Viva con Agua, einer deutschen NGO, aktiv waren. Die haben die ganze Zeit über eine Aktion geredet: Das Tramprennen. Ich hatte keine Vorstellung, worum es dabei ging und erst nachdem sie mir ein paar Videos von der Straße gezeigt hatten, habe ich verstanden, dass es sich um stolze Tramper handelte. Es war das allererste Mal, dass ich Menschen getroffen habe, die das Trampen als Sache an sich feierten und die es nicht nur aus der Notwendigkeit heraus betrieben. Das fand ich zunächst eher verstörend als cool.

Mein erstes Mal verlief dann so: Wir waren in der tschechischen Hauptstadt Prag und wollten zurück nach Kiel zur Kieler Woche. Mit meiner Freundin Camille wurde ich an einer Tankstelle außerhalb der Stadt abgesetzt. Es war noch früh am Morgen und wir hatten keine Ahnung, was wir da gerade machten. Aber wir hatten die leichte Hoffnung, dass wir es vor Einbruch der Dunkelheit nach Kiel schaffen könnten.

Wir waren zwei Frauen, besaßen keine Karte und zusammen nur ein Handy, also haben wir über ein paar Sicherheitsregeln nachgedacht. Eine davon war, dass wir, egal was passieren würde, zusammen bleiben, eine andere war, dass wir es uns sofort sagen würden, wenn wir uns unsicher fühlen.

Kaum hatten wir unser Schild ein paar Minuten hochgehalten, stoppte auch schon ein riesiger LKW. Der Fahrer, ein älterer Mann, sprach Deutsch und sagte: Hey Mädels, wir fahren nach Deutschland, ihr könnt mitkommen! Ein Mädel kommt mit mir, das andere kann mit dem Truck hinten mitfahren.“ In dem Moment sahen wir einen weiteren riesigen Truck, dessen Fahrer uns bereits eifrig winkte. Ich bedankte mich höflich und ergänzte: „Wir können leider nicht mitkommen, wir wollen zusammenbleiben.“

Zu spät! Camille rannte vor lauter Glück, dass so schnell jemand anhielt, mit ihrem Rucksack schon zu dem anderen LKW. Als ich also im LKW platznahm offenbarte mir der Fahrer direkt, wie gern er französische Mädchen hat, seit er eine Affäre mit einer Frau namens Nathalie hatte. Nach diesem unheimlichen Start erinnerte ich mich daran, wie sehr ich das Gefühl mag, von oben herab auf die Straße und die anderen Autos zu schauen. Ich mochte es auch, dass mich der LKW-Fahrer quasi in sein Wohnzimmer eingeladen hat, er bot mir Kaffee, Plätzchen und Zigaretten während der Fahrt an. Wir sprachen über seine Familie in Polen und hörten polnische Oldschool Popmusik. Ich schaute dennoch die ganze Zeit besorgt in den Spiegel und hatte Angst, dass Camilles LKW verschwinden könnte. Doch dem war nicht so, die beiden Trucks lieferten sich auf der Autobahn ein Rennen und überholten sich gegenseitig. An das Tempolimit verschwendete ich keinen Gedanken, ich war einfach froh, Camilles lachendes Gesicht jedes Mal zu sehen, wenn wir uns überholten.

Ein paar Stunden später hielten wir zusammen an und die beiden Fahrer teilten ihr Essen mit uns. Camilles Fahrer war super nett, aber auch er hatte seine ganze Fahrerkabine mit Postern nackter Frauen tapeziert. Sie hat alles im Griff, sagte Camille.

Sechs Stunden später ließen sie uns in Leipzig raus und wir setzten unseren Weg nach Kiel fort, ohne einmal mehr als fünf Minuten warten zu müssen. Selbst während unserer Pause wurden wir von einer Familie gestört, die uns fragte, wo wir denn hinwollen. Am Ende des Tages haben uns ein paar Leute trotz 200km Umweg extra nach Kiel gefahren und dort mit uns die ganze Nacht gefeiert.

Es war der erste Tag meiner langen Geschichte mit dem Reisen per Anhalter. Unterwegs kann alles passieren, ganz besonders großartige Erfahrungen und zufällige, lustige Begegnungen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie meine letzten fünf Jahre ohne Trampen gewesen wären. Ich gewann Geduld, ich lernte es, Fehler und falsche Entscheidungen zu akzeptieren, auf meinen Bauch zu hören und genügsam zu sein.

Und nicht zuletzt habe ich, als ich Grenzen einfach so passierte und überall willkommen geheißen wurde, herausgefunden, wie privilegiert ich eigentlich bin. Während dem Tramprennen 2015 trafen wir auf dem Weg nach Albanien unzählige Gruppen, die entlang der Bahnschienen nach Norden liefen, während unsere netten Fahrer in ihren gut klimatisierten Fahrzeugen furchtbare rassistische Kommentare machten.

Die Welt gehört dir, wenn du trampst, aber das nur als weißer Europäer bzw. Westlicher.

Ok, um ehrlich zu sein bin ich nicht so wirklich weiß, aber es ist ein Fakt, dass Menschen aus anderen Ländern mir gegenüber deutlich gastfreundlicher sind, als sie es noch eine Generation früher mit meinem Vater waren oder als sie es jetzt mit den nach Europa fliehenden Menschen sind.

Jetzt bleibt die Frage: Willst du deine Privilegien nutzen, um fernzusehen? Oder willst du deine Grenzen ausprobieren und die Welt kennenlernen? Es gibt keinen Grund sich schuldig oder schlecht dafür zu fühlen, mach dich auf den Weg, auf geht’s!

 

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