„Trainingslager“ im Baltikum

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Fürwahr, die 370km von Riga nach Klaipeda hatten wir maßlos unterschätzt. Es galt, lediglich einen längeren Abschnitt Landstraße zu befahren, um dann möglichst schnell auf die lithauische A1 zwischen Vilnius und Klaipeda zu gelangen und um 1 Uhr morgens die Fähre Kiel zu nehmen.

Start also um 11h in Riga, geschätzte Ankunft Klaipeda 18h. Zu Fuß und mit dem Bus machen wir uns auf den Weg zum Trampspot in die Rigaer Vorstadt. Die monotonen Betonklötze sind wie schon in Kaunas, Vilnius und anderen kleinen Ortschaften Zeitzeuge eines vor über 20 Jahren aufgelöstem sozialistischen Regimes. Durch die Russifizierungspolitik der vorangegangenen Jahrzehnte liegt der russische Bevölkerungsanteil in Riga bei knapp 50%. Geschichte und Politik haben seit jeher einen Graben zwischen russischen und lettischen Bürgern aufgeworfen und auch die lettische Unabhängigkeit Anfang der 90er-Jahre die sich eher ablehnenden Gruppierungen nicht unbedingt näher zusammengebracht. Es ist also nicht verwunderlich, dass unser erste Lift des Tages ein ein in Riga geborener und aufgewachsener Russe ist, der seine Wurzeln dennoch klar beim großen Nachbarn sieht.

Die breit ausgelegte russische Flagge auf dem Armaturenbrett seines Mercedes HL-270 unterstreicht diesen Anspruch auf Abgrenzung nur noch.

Ein weiteres Auto bringt uns nach Jelgava, einer lettischen Kleinstadt, dessen Zentrum 20 Minuten zu Fuß durchquert werden muss um erneuten Anschluss an die Landstraße zu bekommen. Was in Deutschland Netto, Lidl und Aldi sind, sind im Baltikum Maxima und Iki. Auch in Jelgava, Supermarktketten, die Früchte aus Übersee und Coca-Cola seit dem Fall des Eisernen Vorhangs auf den Markt werfen und den Menschen zum Konsumenten erziehen.

Fünfstöckige Shopping-Malls in jedem halbwegs großem Ort haben den sozialen Treffpunkt und das Stadtzentrum mittlerweile für sich in Anspruch genommen. Mit Bowlingbahn, Eishockeyhalle, Kletterwand, Fast-Food-Area, Supermarkt und allen Geschäften, die man auch in Hamburg auf der Mönckebergstraße findet wird jedwede kreative und künstlerische Aktivität aus den Köpfen der Menschen verdrängt. Stattdessen findet eine Uniformierung der Bevölkerung erstaunlicherweise auf eine ganz andere Weise statt…

Wir befinden uns nach zwei Kurzstreckenlifts mittlerweile wieder auf der Landstraße zwischen Jelgava und Siauliai.

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Einige wenige Häuser, eine kleine Tankstelle und ansonsten die unendlichen Weiten schneebedeckter Felder prägen seit Stunden das Landschaftsbild. Der Wind und die Minusgrade ziehen nach gut 1,5 Stunden erfolgloser Warterei in Schuhe, Ohren und Hände. Es ist bereits 16 Uhr und in knapp 2 Stunden wird die Sonne untergehen. Von den 370km nach Klaipeda hatten wir gerade mal 100km zurückgelegt. Die Zeit drängt und wenig später hält tatsächlich ein lithauisches Pärchen und bringt uns bis 10km hinter die lithauisch-lettische Grenze.

Mitten im Gelände halten wir an einer kleinen Tankstelle mit zwei Zapfsäulen. Der Wind zieht laut zischend am Auto vorbei, kleine Schneeflocken setzen sich an der Fensterscheibe ab und Schneeverwehungen bilden matschige Dreiecke auf der rechten Fahrbahn.

„You need to be warm for the rest of the trip!“ lächelt der Mann mit Blick auf die Rückbank, zückt einen Schein lithauischer Litos und kommt mit zwei großen Bechern schwarzem Kaffee und zwei Tafeln Schokolade zurück ins Auto. Mehr als dankbar nehmen wir die Wärme- und energiespendende Geste des Pärchens an, die wir vor nicht einmal 10 Minuten kennengelernt haben.

 

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Wenig später verabschieden wir uns schon wieder und befinden uns an einem x-beliebigem Ortsausgang und hoffen auf einen Lift nach Siauliai, der nächsgrößten Stadt zwischen Riga und Klaipeda. Keine Chance, alle Fahrer geben Handzeichen die „Vergesst-es-ich-wohne-im-Ort“ bedeuten.

Der Sonnenuntergang naht und es ist an der Zeit, Entscheidungen zu treffen, wenn wir heute Nacht noch die Fähre nach Kiel erwischen wollen. Pascal schlägt vor, einen Geldautomat zu suchen und den nächsten Bus nach Siauliai zu nehmen, um das höhere Verkehrsaufkommen zu nutzen. Mit Null Lats und Null Litos können wir uns ein Ticket allerdings nicht leisten.

 

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Geldautomat gesucht, gefunden, abgehoben. Weltweit gültige Plastikkarten sind doch wirklich hilfreich! „Look, an ambulance car! That’s the one we could need right now after covering only 50kms in 4 hours!“ Keine 60 Sekunden später sitzen wir neben Verletztenbahre und unter einer Operationslampe im Hinterteil eines Krankenwagens.

Der Fahrer und sein vielleicht 12-jähriger Sohn transportieren gerade Blutkonserven ins städtische Krankenhaus und freuen sich, zwei Fremden aus einer wahrlich beschissenen Situation zu helfen. Sie bringen uns zum Busbahnhof und da es mittlerweile dunkel ist, wollen wir die restliche Strecke lieber mit dem Bus zurücklegen.

 

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Zu dumm, der letzte Bus nach Klaipeda ist vor 2 Stunden abgefahren. Aufgedreht durch einen halben Liter schwarze Bohnen als Nicht-Kaffee-Trinker und unser völlig unverhältnismäßiges Glück sehe ich nicht ein, die heutige Etappe trotz Minusgraden, Schnee und Dunkelheit als nicht mehr machbar aufzugeben.

Pascal, von Beruf Verkehrsplaner in der Schweiz, hat während einer kurzen Pinkelpause unseren letzten Trumpf ausgeklügelt und einen strategischen Plan entwickelt. Wir nehmen den Bus nach Taurage, auf halben Weg schneidet die Strecke die A1, die von Vilnius nach Klaipeda führt. Da Bushaltestellen auf Autobahnen in Lithauen nicht unüblich sind, wollen wir dort aussteigen und unser Glück weiter auf die Probe stellen.

 

Das ganze Unterfangen erinnert mittlerweile mehr an ein Spiel als eine Reise von A nach B. Erst im Bus wird uns so richtig klar, dass wir gerade möglicherweise dabei sind, eine riesengroße Dummheit zu begehen.

In unregelmäßigen Abständen verlassen hauptsächlich alte Frauen mit selbstgestrickten Mützen und Plastiktüten vom Einkauf unter beiden Armen den Bus. Ihre Häuser sind kleine Lichtoasen abseits der Straße, ein warmer Rückzugsraum des ansonsten völlig in Schnee versunkenem Umlands.

 

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Erneut schlägt das Wetter um, zentimeterdicke Schneeflocken drücken sich an die Scheiben, ziehen einen Strich vereinzelter Wassertropfen hinter sich her und folgen den Gesetzen der Fliehkraft. Innerhalb von Minuten hat sich eine dicke Schicht Neuschnee auf der Straße gebildet, die der Busfahrer durch sein Guckloch der ansonsten restlos beschlagenen Frontscheibe zu befahren versucht.

Aus dem Radio dröhnt Celine Dions Klassiker, der Soundtrack zu „Titanic“ und auch ich fühle mich ein wenig wie auf einem untergehenden Schiff. Euphorie, Angespanntheit und Vorfreude geben sich in kurzen Abständen gegenseitig Steilvorlagen. Die Vorstellung, in wenigen Kilometern bei eisiger Kälte, Schneetreiben und absoluter Dunkelheit auf der Autobahn zu stehen, schwankt zwischen Faszination und Sorge zugleich.

 

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Wir warten nur noch darauf, den Bus endlich verlassen zu können um den funktionierenden Verstand ein zweites Mal durch unverschämtes Glück zu ersetzen.

Der Bus hält, der Fahrer redet gestikulierend auf lithauisch auf uns ein. Ein junger Fahrgast übersetzt und sagt, in 5 Minuten würde hier ein Bus aus Vilnius kommend stoppen und bis Klaipeda fahren. Ich hatte mehrere Szenarien im Kopf durchgespielt, was im Folgenden hätte passieren können: Glück haben und schnell direkt weiterkommen, die ganze Nacht springend und hüpfend an der Straße stehen, falls niemand hält; an Haustüren klopfen und um Obdach bitten; die Winddurchlässigkeit des Schlafsacks unter freiem Himmel auf die Probe stellen.

 

Mit einem zufällig nach Klaipeda fahrendem Bus hatten wir allerdings nicht gerechnet. Vernunft siegt, das Glück war uns heute schon zu oft über den Weg gelaufen und in einem Krankenwagen zu trampen hätte man an diesem Tag ohnehin nicht mehr toppen können. Mit Freude nehmen wir den Bus nach Klaipeda und lassen einen ereignisreichen Tag mit einem Bier ausklingen, bevor es mit der Fähre auf eine 20-stündige Überfahrt umgeben von baltischen Truckern nach Kiel geht.

3 Kommentare
  1. Playschool
    Playschool sagte:

    Ja, ja… your shoes really saved his ass, or actually his feet, but if they have this kind of magical power, why, but why on earth did we have to stand for more than 6hours without getting any single car in Vilnius ?!?!?

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