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#20: Audrey
Das erste Mal, dass ich getrampt bin, war im Sommer 2011. Ich kam gerade als französische Austauschstudentin in Kiel an. Durch Couchsurfing habe ich ein paar wirklich coole deutsche Hippies kennengelernt, die bei Viva con Agua, einer deutschen NGO, aktiv waren. Die haben die ganze Zeit über eine Aktion geredet: Das Tramprennen. Ich hatte keine Vorstellung, worum es dabei ging und erst nachdem sie mir ein paar Videos von der Straße gezeigt hatten, habe ich verstanden, dass es sich um stolze Tramper handelte. Es war das allererste Mal, dass ich Menschen getroffen habe, die das Trampen als Sache an sich feierten und die es nicht nur aus der Notwendigkeit heraus betrieben. Das fand ich zunächst eher verstörend als cool.
Mein erstes Mal verlief dann so: Wir waren in der tschechischen Hauptstadt Prag und wollten zurück nach Kiel zur Kieler Woche. Mit meiner Freundin Camille wurde ich an einer Tankstelle außerhalb der Stadt abgesetzt. Es war noch früh am Morgen und wir hatten keine Ahnung, was wir da gerade machten. Aber wir hatten die leichte Hoffnung, dass wir es vor Einbruch der Dunkelheit nach Kiel schaffen könnten.
Wir waren zwei Frauen, besaßen keine Karte und zusammen nur ein Handy, also haben wir über ein paar Sicherheitsregeln nachgedacht. Eine davon war, dass wir, egal was passieren würde, zusammen bleiben, eine andere war, dass wir es uns sofort sagen würden, wenn wir uns unsicher fühlen.
Kaum hatten wir unser Schild ein paar Minuten hochgehalten, stoppte auch schon ein riesiger LKW. Der Fahrer, ein älterer Mann, sprach Deutsch und sagte: Hey Mädels, wir fahren nach Deutschland, ihr könnt mitkommen! Ein Mädel kommt mit mir, das andere kann mit dem Truck hinten mitfahren.“ In dem Moment sahen wir einen weiteren riesigen Truck, dessen Fahrer uns bereits eifrig winkte. Ich bedankte mich höflich und ergänzte: „Wir können leider nicht mitkommen, wir wollen zusammenbleiben.“
Zu spät! Camille rannte vor lauter Glück, dass so schnell jemand anhielt, mit ihrem Rucksack schon zu dem anderen LKW. Als ich also im LKW platznahm offenbarte mir der Fahrer direkt, wie gern er französische Mädchen hat, seit er eine Affäre mit einer Frau namens Nathalie hatte. Nach diesem unheimlichen Start erinnerte ich mich daran, wie sehr ich das Gefühl mag, von oben herab auf die Straße und die anderen Autos zu schauen. Ich mochte es auch, dass mich der LKW-Fahrer quasi in sein Wohnzimmer eingeladen hat, er bot mir Kaffee, Plätzchen und Zigaretten während der Fahrt an. Wir sprachen über seine Familie in Polen und hörten polnische Oldschool Popmusik. Ich schaute dennoch die ganze Zeit besorgt in den Spiegel und hatte Angst, dass Camilles LKW verschwinden könnte. Doch dem war nicht so, die beiden Trucks lieferten sich auf der Autobahn ein Rennen und überholten sich gegenseitig. An das Tempolimit verschwendete ich keinen Gedanken, ich war einfach froh, Camilles lachendes Gesicht jedes Mal zu sehen, wenn wir uns überholten.
Ein paar Stunden später hielten wir zusammen an und die beiden Fahrer teilten ihr Essen mit uns. Camilles Fahrer war super nett, aber auch er hatte seine ganze Fahrerkabine mit Postern nackter Frauen tapeziert. Sie hat alles im Griff, sagte Camille.
Sechs Stunden später ließen sie uns in Leipzig raus und wir setzten unseren Weg nach Kiel fort, ohne einmal mehr als fünf Minuten warten zu müssen. Selbst während unserer Pause wurden wir von einer Familie gestört, die uns fragte, wo wir denn hinwollen. Am Ende des Tages haben uns ein paar Leute trotz 200km Umweg extra nach Kiel gefahren und dort mit uns die ganze Nacht gefeiert.
Es war der erste Tag meiner langen Geschichte mit dem Reisen per Anhalter. Unterwegs kann alles passieren, ganz besonders großartige Erfahrungen und zufällige, lustige Begegnungen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie meine letzten fünf Jahre ohne Trampen gewesen wären. Ich gewann Geduld, ich lernte es, Fehler und falsche Entscheidungen zu akzeptieren, auf meinen Bauch zu hören und genügsam zu sein.
Und nicht zuletzt habe ich, als ich Grenzen einfach so passierte und überall willkommen geheißen wurde, herausgefunden, wie privilegiert ich eigentlich bin. Während dem Tramprennen 2015 trafen wir auf dem Weg nach Albanien unzählige Gruppen, die entlang der Bahnschienen nach Norden liefen, während unsere netten Fahrer in ihren gut klimatisierten Fahrzeugen furchtbare rassistische Kommentare machten.
Die Welt gehört dir, wenn du trampst, aber das nur als weißer Europäer bzw. Westlicher.
Ok, um ehrlich zu sein bin ich nicht so wirklich weiß, aber es ist ein Fakt, dass Menschen aus anderen Ländern mir gegenüber deutlich gastfreundlicher sind, als sie es noch eine Generation früher mit meinem Vater waren oder als sie es jetzt mit den nach Europa fliehenden Menschen sind.
Jetzt bleibt die Frage: Willst du deine Privilegien nutzen, um fernzusehen? Oder willst du deine Grenzen ausprobieren und die Welt kennenlernen? Es gibt keinen Grund sich schuldig oder schlecht dafür zu fühlen, mach dich auf den Weg, auf geht’s!
TR-Adventskalender #22
/in Adventskalender_2016, Mein erstes Mal#22: Hauke
Wunderbar. Angekommen in Berlin. Lief doch ganz gut!
Damit es läuft, sollte und wollte ich einige kleine Dinge beachten, denn viele Regeln gibt’s beim Trampen nicht. Eigentlich nur eine: du kommst immer weg. Was mich zur logischen Schlussfolgerung bringt: du kommst auch irgendwann an. Immer.
Das zumindest hatte ich nun geschafft bei meinem ersten Mal trampen.
Mai oder Juni 2008 war‘s und ich wollte vom ‚Grünen Herzen‘ in Kiel zum Couchsurfing Beach Camp nach Berlin.
Damit die eine Regel aber überhaupt ermöglicht werden kann, gibt es wie angedeutet schon ein paar einfache Dinge zu beachten – was sollte ich tun, was besser nicht.
Mit wild schlagender Pumpe machte ich mich auf den Weg zu meinem ausgewählten Spot, hatte ein schickes, gut lesbares ‚Berlin‘-Schild gemalt, meinen dicken Rucksack samt Zelt dabei und stand so wie der letzte Klischee-Tramper am Straßenrand. Gut sichtbar für alle Autos und mit massig Platz zum Anhalten. So weit, so gut. Das waren die ersten Dinge, auf die ich achten sollte. Wuddich und Malte waren schon vorgetrampt und gaben mir solche Hinweise am Tag vorher.
Ganz Klischee hielt nach 4 Minuten mein allererster Lift überhaupt: ein alter Bulli. Ich rein in den Bulli und ab auf die B404 in Richtung Berlin. Das Ganze Vergnügen ging keine Stunde und ich stand wieder draußen irgendwo im nirgendwo zwischen Bad Segeberg und Bad Oldesloe. Direkt hinter der Leitplanke an einer verengten 404-Baustellenstraße. Dass ich beim Einsteigen mal hätte fragen können, wo es denn genau hingeht… naja.
Hinweis 2 von Wuddich und Malte erschien prompt beim Aussteigen aus dem Bulli via SMS auf meinem Nokia 3210: „Lass dich irgendwo rausschmeißen, wo die Leute gut anhalten können.“ Touché.
Das Glück ist ja aber bekanntlich mit den Doofen und so saß ich keine 2 Minuten später bei einem Bundeswehrsoldaten mit im Auto auf dem Weg Richtung Berlin. Reichlich diffuses Gerede später musste er von der Autobahn abfahren und ließ mich an einer Tankstelle raus. In diesem Moment erreichte mich Hinweis 3:
„Achso, und wenn du nochmal umsteigen musst, dann lass dich auf jeden Fall an Raststätten direkt an der Autobahn und nicht an Autohöfen raus!! Da kommst du nicht weg.“
Tanken konnte man hier, direkt an der Autobahn sieht allerdings deutlich anders aus.
Danke für nichts, Jungs!
Also sabbelte ich die spärlich vorhandenen Autofahrer an und hatte bei einem jungen Berliner Pärchen Glück, musste aber noch 10 Minuten warten bis es losgehen konnte. Grund hierfür war das ausgeprägte Gesundheitsbewusstsein der Freundin: erst mit viel Betonung den Salat von McDonald‘s auffuttern („der Ganze andere ungesunde Scheiß geht gar nicht!“), gefolgt vom wegschmökern der Mentholkippe. Alles vor dem Wagen, denn drinnen durfte nicht geraucht werden. Einmal im Auto, verstummten sofort alle Gespräche aller Insassen mit- und untereinander, Techno wurde aufgedreht und ab ging die wilde Fahrt nach Berlin. Irgendwann hörte ich zwischen dem Ballern der 5000W Bass Machine ein kleines Piepen und sah Hinweis 4 auf meinem Handy: „Wenn du in Berlin bist, fahr mit der UBahn zum Bahnhof soundso (vergessen), von da können wir zu Fuß zum Camp.“
Keine 15 Minuten später fuhr der BMW unter Getöse an genau diesem Bahnhof vorbei – die beiden ließen mich raus und ich war angekommen in Berlin beim Camp. Wunderbar.
Dort passierten skurrile Dinge – unter anderem liefen wir unbewusst Pascal Pernod über den Weg, der ~3 Monate später auf dem ersten Tramprennen alle Teilnehmer bei sich in Lausanne übernachten ließ. Das wir zeitgleich am selben Ort in Berlin waren, stellten wir aber erst ein paar Jahre später fest. Ein anderer Future-Host war unser Nachbar‚Ich-koche-Kaffee-mit-Wodka‘-Mario, der wiederum 2009 in Linz die komplette Crew in einer Pfadfinderhütte unterbrachte.
Wie die Rückfahrt verlief, weiß ich nicht mehr. Bin auf jeden Fall angekommen.
TR-Adventskalender #21
/in Adventskalender_2016, Mein erstes Mal#21: Johannes
Es ist schon fast vermessen zu sagen, dass ich per Anhalter „gereist“ bin, als ich das erste Mal beschloss meinen Daumen am Straßenrand auszustrecken und auf einen Lift zu warten.
Es war im August 2011 und ich hatte gerade mein Physik Studium in Berlin nach zwei Semestern abgebrochen – zusätzlich zu den Semesterferien somit auch noch weniger Sorgen was Hausarbeiten o.Ä. angeht. Viel Zeit also, um mal ein bisschen durch Deutschland zu reisen und Freunde zu besuchen.
Eine dieser Reisen brachte mich in die kuriose Lage, in einer Kaserne der Bundeswehrakademie in Hamburg zu übernachten. Ein guter Schulfreund hatte beschlossen für das Studium diesen, für mich nicht ganz nachvollziehbaren, Weg zu gehen. Bei meinem Besuch eröffnete er mir dann auch, dass ein Freund von ihm kürzlich ausgezogen war und sein Zimmer noch frei sei – ich hatte also ein Kasernenzimmer für mich. Was folgte, waren drei Tage mit ein paar interessanten Begegnungen und Gesprächen, sowie irritierte Reaktionen aufgrund meiner sichtlichen Nicht-Zugehörigkeit. Aber da es hier um mein erstes Mal Trampen und nicht um drei Tage in einer Bundeswehrkaserne gehen soll, gehe ich da nicht weiter ins Detail.
Nach diesen Tagen, in denen ich natürlich auch einiges von der Hamburger Stadt gesehen habe und einmal am Elbstrand komplett nass geworden bin, ohne einen Fuß ins Wasser zu setzen, ging es für mich erstmal zurück nach Berlin. Die Frage war nur noch wie. Normalerweise wäre ich zu diesem Punkt auf eine Mitfahr-Plattform gegangen, aber ich war im Abenteuer-Modus. Ich hatte Zeit, die Strecke ist gut befahren, einen Edding hatte ich auch dabei – also trampen, dass erste Mal.
Das ich überhaupt auf die Idee kam, lag vor allem daran, dass ich ein paar Monate zuvor beim Weltwassertag auf einer kleinen Demo die Leute von Viva con Agua kennengelernt hatte. Nach einigen Aktionen und Treffen viel mir schnell auf, dass trampen bei vielen von ihnen eine gängige Art des Reisens war. Für mich war es bis dahin noch mehr ein „Steig nicht bei fremden Leuten ins Auto, wer weiß was da alles passieren kann“-Gefühl. Ich war da vor allem geprägt durch die sehr behütete und misstrauische Art meiner Erziehung auf dem Thüringer Dorf.
Die Vorbereitungen waren schnell gemacht – einen alten Sherry Karton aus der Kaserne als Pappe genommen und auf Hitchwiki nachgeschaut, wo der beste Spot nach Berlin ist. Da es eine belebte Strecke ist musste ich nicht lange suchen und fand schnell den Horner Kreisel als besten Liftpoint, einen Kreisel direkt vor der Autobahnauffahrt nach Berlin. Noch schnell die Verbindung mit den Öffentlichen von der Kaserne bis dorthin gecheckt und los ging’s.
Am Kreisel angekommen, war dann auch schnell der beste Platz zum Warten gefunden. Ein guter Indikator waren dabei die Aufkleber und Schriftzüge auf einer großen Säule, die ziemlich klar darauf hinwiesen, dass man hier gut trampen kann. Für Autofahrer gab es ein paar Meter hinter der Säule eine Bushaltestelle, in der sie ohne Probleme anhalten konnten. Immer noch etwas unsicher packte ich meine Pappe aus und schrieb in großen Lettern „BERLIN“ darauf. Es folgte der Punkt, der für mich die größte Überwindung erforderte: mich einfach so mit dem Schild an die Straße stellen, freundlich gucken, Daumen raus halten und hoffen das irgendwer anhält.
So stand ich dann also da, innerlich noch unsicher ob die ganze Sache wirklich funktioniert. Doch bevor ich zwei Mal drüber nachdenken konnte hielt schon ein Mini Cooper neben mir. Etwas ungläubig, dass es so einfach gewesen sein soll, packte ich meine Sachen und ging zur Beifahrertür. Der Fahrer, geschätzt Mitte 40, sagte mir gleich, dass er nach Berlin fährt und fragte, ob ich mit will. Da mein Bauchgefühl keine Probleme mit ihm zu haben schien, warf ich meine Sachen auf den Rücksitz und stieg ein. Was folgte waren ca. drei Stunden Autofahrt mit netter Unterhaltung, einem kleinen Zwischenstopp (bei dem der Fahrer überrascht war, dass ich keine Angst hatte, dass er einfach mit meinen Sachen abhaut) und der ersten getrampten Strecke meines Lebens.
Ich würde gerne noch beschreiben, wie abenteuerlich die Fahrt war, aber alles, was es gefühlt von einer Mitfahrgelegenheit unterschied, war die Zufälligkeit am Anfang, das leere Auto und das fehlende Entgelt. Ich hatte zwar auch schon wirklich nette Mitfahrgelegenheiten aber bei diesem Lift hatte ich das Gefühl, dass die Atmosphäre allgemein gleich etwas freundlicher war, vor allem dadurch, dass der Fahrer früher selbst oft getrampt ist und somit gleich einige Geschichten erzählen konnte.
Dass es auch etwas anders laufen kann und eigentlich jede Fahrt anders ist, habe ich danach noch bei meinen vielen weiteren Reisen per Daumen erfahren. Aber was immer blieb und bleibt ist das Gefühl am Ende des Tages, neue Menschen kennengelernt zu haben.
TR-Adventskalender #20
/in Trainingslager (Tramp-Geschichten)#20: Audrey
Das erste Mal, dass ich getrampt bin, war im Sommer 2011. Ich kam gerade als französische Austauschstudentin in Kiel an. Durch Couchsurfing habe ich ein paar wirklich coole deutsche Hippies kennengelernt, die bei Viva con Agua, einer deutschen NGO, aktiv waren. Die haben die ganze Zeit über eine Aktion geredet: Das Tramprennen. Ich hatte keine Vorstellung, worum es dabei ging und erst nachdem sie mir ein paar Videos von der Straße gezeigt hatten, habe ich verstanden, dass es sich um stolze Tramper handelte. Es war das allererste Mal, dass ich Menschen getroffen habe, die das Trampen als Sache an sich feierten und die es nicht nur aus der Notwendigkeit heraus betrieben. Das fand ich zunächst eher verstörend als cool.
Mein erstes Mal verlief dann so: Wir waren in der tschechischen Hauptstadt Prag und wollten zurück nach Kiel zur Kieler Woche. Mit meiner Freundin Camille wurde ich an einer Tankstelle außerhalb der Stadt abgesetzt. Es war noch früh am Morgen und wir hatten keine Ahnung, was wir da gerade machten. Aber wir hatten die leichte Hoffnung, dass wir es vor Einbruch der Dunkelheit nach Kiel schaffen könnten.
Wir waren zwei Frauen, besaßen keine Karte und zusammen nur ein Handy, also haben wir über ein paar Sicherheitsregeln nachgedacht. Eine davon war, dass wir, egal was passieren würde, zusammen bleiben, eine andere war, dass wir es uns sofort sagen würden, wenn wir uns unsicher fühlen.
Kaum hatten wir unser Schild ein paar Minuten hochgehalten, stoppte auch schon ein riesiger LKW. Der Fahrer, ein älterer Mann, sprach Deutsch und sagte: Hey Mädels, wir fahren nach Deutschland, ihr könnt mitkommen! Ein Mädel kommt mit mir, das andere kann mit dem Truck hinten mitfahren.“ In dem Moment sahen wir einen weiteren riesigen Truck, dessen Fahrer uns bereits eifrig winkte. Ich bedankte mich höflich und ergänzte: „Wir können leider nicht mitkommen, wir wollen zusammenbleiben.“
Zu spät! Camille rannte vor lauter Glück, dass so schnell jemand anhielt, mit ihrem Rucksack schon zu dem anderen LKW. Als ich also im LKW platznahm offenbarte mir der Fahrer direkt, wie gern er französische Mädchen hat, seit er eine Affäre mit einer Frau namens Nathalie hatte. Nach diesem unheimlichen Start erinnerte ich mich daran, wie sehr ich das Gefühl mag, von oben herab auf die Straße und die anderen Autos zu schauen. Ich mochte es auch, dass mich der LKW-Fahrer quasi in sein Wohnzimmer eingeladen hat, er bot mir Kaffee, Plätzchen und Zigaretten während der Fahrt an. Wir sprachen über seine Familie in Polen und hörten polnische Oldschool Popmusik. Ich schaute dennoch die ganze Zeit besorgt in den Spiegel und hatte Angst, dass Camilles LKW verschwinden könnte. Doch dem war nicht so, die beiden Trucks lieferten sich auf der Autobahn ein Rennen und überholten sich gegenseitig. An das Tempolimit verschwendete ich keinen Gedanken, ich war einfach froh, Camilles lachendes Gesicht jedes Mal zu sehen, wenn wir uns überholten.
Ein paar Stunden später hielten wir zusammen an und die beiden Fahrer teilten ihr Essen mit uns. Camilles Fahrer war super nett, aber auch er hatte seine ganze Fahrerkabine mit Postern nackter Frauen tapeziert. Sie hat alles im Griff, sagte Camille.
Sechs Stunden später ließen sie uns in Leipzig raus und wir setzten unseren Weg nach Kiel fort, ohne einmal mehr als fünf Minuten warten zu müssen. Selbst während unserer Pause wurden wir von einer Familie gestört, die uns fragte, wo wir denn hinwollen. Am Ende des Tages haben uns ein paar Leute trotz 200km Umweg extra nach Kiel gefahren und dort mit uns die ganze Nacht gefeiert.
Es war der erste Tag meiner langen Geschichte mit dem Reisen per Anhalter. Unterwegs kann alles passieren, ganz besonders großartige Erfahrungen und zufällige, lustige Begegnungen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie meine letzten fünf Jahre ohne Trampen gewesen wären. Ich gewann Geduld, ich lernte es, Fehler und falsche Entscheidungen zu akzeptieren, auf meinen Bauch zu hören und genügsam zu sein.
Und nicht zuletzt habe ich, als ich Grenzen einfach so passierte und überall willkommen geheißen wurde, herausgefunden, wie privilegiert ich eigentlich bin. Während dem Tramprennen 2015 trafen wir auf dem Weg nach Albanien unzählige Gruppen, die entlang der Bahnschienen nach Norden liefen, während unsere netten Fahrer in ihren gut klimatisierten Fahrzeugen furchtbare rassistische Kommentare machten.
Die Welt gehört dir, wenn du trampst, aber das nur als weißer Europäer bzw. Westlicher.
Ok, um ehrlich zu sein bin ich nicht so wirklich weiß, aber es ist ein Fakt, dass Menschen aus anderen Ländern mir gegenüber deutlich gastfreundlicher sind, als sie es noch eine Generation früher mit meinem Vater waren oder als sie es jetzt mit den nach Europa fliehenden Menschen sind.
Jetzt bleibt die Frage: Willst du deine Privilegien nutzen, um fernzusehen? Oder willst du deine Grenzen ausprobieren und die Welt kennenlernen? Es gibt keinen Grund sich schuldig oder schlecht dafür zu fühlen, mach dich auf den Weg, auf geht’s!
TR-Adventskalender #19
/in Trainingslager (Tramp-Geschichten)#19: Tue Gonzo
Es ist ein bisschen mehr als 13 Jahre her, dass ich Jack Kerouacs “On the road” gelesen habe. Das Buch hat mich in vielfältiger Weise inspiriert, was total klischeehaft klingt, ich weiß, aber damals war das noch nicht der Fall.
Verdammt, ich merke gerade, dass ich keine 60 bin, dass macht mich selbst zum Märchenonkel, egal, zurück zu meiner lesebedingten Reiselust.
Nachdem ich die inspirierenden Zeilen eines jungen Trampers gelesen hatte, der in den 60ern mit dem Rucksack per Anhalter die Staaten durchquerte, wurde mir klar, dass ich diese berauschende Art und Weise des Reisens mit dem Namen Trampen ausprobieren sollte.
Ich schrieb fast allen meinen Freunden, dass ich etwas total Neues, Außergewöhnliches vor habe und ja, einige haben interessiert geantwortet. In moderne Kommunikation übersetzt bekam ich ungefähr 50 Likes, 12 Emoticons und 4 Shares für meine grandiose Idee.
Mein Plan war es von Kalundborg nach Kopenhagen zu trampen, eine beängstigende Distanz von 120 Kilometern. Dänische Kilometer! (was normalen Kilometern entspricht, aber bessere, einfach schönere Kilometer…)
Kalundborg hat gerade Mal 20.000 Einwohner und folglich gibt es nur eine Straße, die von dort nach Kopenhagen führt und es dauert gerade mal 15 bis 20 Minuten, um dorthin zu laufen.
Mein 17-jähriges Ich sah fantastisch aus an der Straße: Der Daumen raus gestreckt, die Haare im Wind, und ich grinste den Fahren wie ein Honigkuchenpferd entgegen.
Wie ihr euch sicher denken könnt, dauerte es nicht lange und ein Auto hielt an. Es ging nur bis in die nächste Stadt, aber das war vollkommen in Ordnung für mich.
Der nächste Spot war genauso gut, die Autos waren langsam, ich gut sichtbar und es gab viel Platz um anzuhalten. Mein Daumen hatte war noch nicht mal kalt, da stoppte schon das nächste Auto.
Und was passierte jetzt? Ich bekam tatsächlich einen Lift direkt nach Kopenhagen, aber ich sagte dem Fahrer, dass ich nur 20 bis 30km mitfahren möchte, und beim nächsten Auto machte ich das ganz genauso.
Warum?
Ganz einfach: Mir ging es nicht darum, nach Kopenhagen zu kommen. Ich wollte trampen und nur durch meinen Daumen in verschiedensten Autos mitfahren und mit den unterschiedlichsten Leuten quatschen.
Nach fünf bis sechs Lifts kam ich in Kopenhagen an und ich lief die letzten acht km bis zum Hauptbahnhof, wo ich mich in den Zug setzte um zurück nach Kalundborg zu fahren. Die nächsten anderthalb Stunden verbrachte ich dann damit, ganz in Ruhe mein Lunchpaket zu verspeisen.
Das war also mein erstes Mal Trampen: Ich habe es erfolgreich von A und B geschafft und wieder zurück nach A. Ich habe mehrere Direktlifts abgelehnt und ich kann sagen, dass es ein in dieser Form bis heute einzigartiger Trip war. Was vollkommen in Ordnung ist, schließlich ist es beim ersten Mal doch erlaubt, verrückten Scheiß auszuprobieren, oder?
TR-Adventskalender #18
/in Trainingslager (Tramp-Geschichten)Ho,ho,ho- Los gehts! Die Weihnachtszeit rückt näher und wir wollen euch etwas ganz besonderes präsentieren: Den ersten Adventskalender auf tramprennen.org. Jeden Tag bis Weihnachten (oder auch daüber hinaus..) gibt es für euch eine Geschichte von unserer allerallerersten Tramperfahrung! Viel Spaß mit den Geschichten und wir freuen uns riesig über weitere “Mein-erstes-Mal”-Geschichten für den Adventskalender. Schickt Eure einfach an gro.nennerpmartnull@ofni. Whoop,Whoop!
#18: Minerva
Trampen? Echt jetzt? So dieses “Daumen-raus-an-der-Straße-stehen”-Trampen? Als mir meine neuen Mitbewohner in Deutschland davon erzählten, wie sie nur mit einem Rucksack und ein paar hundert Euros quer durch Europa gereist sind, schaute ich völlig verdutzt aus der Wäsche.
Es war gerade Herbst, als ich in Kiel ankam um zu studieren. Deutsch hatte ich während meiner Arbeit als Nanny gelernt und jetzt hatte ich tatsächlich das Glück, in einer WG mit wahren Tramprennen-Experten zu landen.
Trampen, das war für mich zu der Zeit etwas aus Filmen oder aus Jack Kerouacs Buch, aber als jemand, der in den 90er Jahren in Kolumbien aufgewachsen ist, absolut nichts aus dem realen Leben.
Klar, wir hatten traumhafte Strände und Berge, leckere Früchte und generell tolles Essen sowie ein paar fantastische Tanzfilme, aber das alles stand immer im Zusammenhang mit einer gehörigen Portion Misstrauen gegenüber unseren Mitmenschen. Man musste immer vorsichtig sein, die Gefahr lauerte überall und niemals, wirklich niemals, hätte man einen Fremden in sein Auto steigen lassen.
Das erklärt vielleicht ungefähr den Schock, den ich hatte, als Anna und Max mir nicht nur erklärten, dass Trampen in Deutschland funktionieren würde, nein, sie nutzen es als völlig normales Transportmittel. Und nicht nur das, dabei treffen sie auch noch besondere Menschen und entdecken die tollsten Orte.
Es dauerte ein Semester, bis ich meine kolumbianischen Ängste tatsächlich überwand und es einfach versuchte.
Es war Sommer und mein Gast-Großvater hatte eine Operation in Hamburg, wo ich ihn besuchen wollte. Max und Anna wollten zufällig auch nach Hamburg und so passte das perfekt. Wir standen vor dem Ikea in Kiel und sind getrampt. Ich konnte es nicht glauben: Ich war gerade dabei zu trampen. Ich! Die Person, die sich in Bogota nicht mal traute, den Busfahrer zu fragen, ob sie 30 Cent weniger zahlen muss (Ja, das kann man in Kolumbien machen.).
Ich weiß nicht mehr, wie lang es dauerte, vielleicht eine halbe Stunde, bis ein türkischer Mann in einem LKW uns zuwinkte und wir bei ihm einstiegen. Es war fantastisch, ich war wie in Ekstase und er fuhr auch noch genau nach Hamburg!!!
Nachdem ich natürlich noch ein obligatorisches Foto für mein „Was-verrückte-Eurpäer_innen-machen“-Album gemacht hatte, war ich infiziert mit dem Tramp-Virus.
Ich bin bis nach Istanbul und zurück getrampt, ich war im Süden Spaniens, in Italien und an so vielen weiteren Orten, die ich ohne das Reisen per Anhalter niemals kennengelernt hätte. Ich habe so unglaublich tolle, gastfreundliche Menschen getroffen und ich habe es sogar geschafft, ein paar meiner Freunde aus Kolumbien zum Trampen zu bringen!