Wunderschönes Galizien

Es könnte eine Umkleidekabine oder ein Klassenraum sein. Oder eben der Mannschaftsbus von Deportivo A Corunas C-Jugend. Sportart Fußball, versteht sich von selbst. Wir betreten ein Biotop aus Zahnspangen, jungfräulichem Testosteron und Handys mit Kamera. Ob in Deutschland oder Spanien, die Bewohner des Biotops sind stets dieselben: ein vorlauter, nach Aufmerksamkeit schreiender, für sein Alter meist zu groß geratener, pickliger Gorilla mit viel Kraft und wenig Verstand. Dazu kommen der Schüchterne, der Beobachtende, der Vollidiot und natürlich der Smarte: meist klein, clever und geheimer Dirigent des Pöbels. So auch in unserem Bus, von jeder Sorte einer. Durch das Busmikrofon chr-chr-chrrrrächzt abwechselnd völlig übersteuert der Stimmbruch des Gorillas oder talentfreier Singsang eines aufstrebenden Sternchens am spanischen Pophimmel. Nicht aus dem Radio, viel besser: mp3’s vom Handy, dicht ans Mikrofon gehalten.
Man hält es kaum aus.
Der Smarte schafft es nur kurz, Gorri und die Freisprechanlage unter Kontrolle zu kriegen. Ein herber Schlag auf den Kopf des Kleinwüchsigen genügt und schon ist die Banane wieder in der Hand des Stärkeren, der seine Eroberung stolz mit einigen „U-UU-UUU“s von den Baumwipfeln hinaus in die Weiten des Busses quiekt.
Man hält es nicht mehr aus.
Scheißegal, ob Lars noch nie vor Publikum Gitarre gespielt hat, der richtige Moment war genau jetzt. Vielleicht nicht der richtige, aber der Notwendige. Dem schier endlosen Stück Kreide auf der Tafel musste ein Ende gesetzt werden. Lars, die Gitarre! Die Gitarre! Einen gefährlichen Brand muss man mit Feuer löschen, also hol ihn endlich raus, unseren Feuerlöscher! Endlich: die Gitarre.
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Spätestens nach Tenacious D – The best Song in the World ist auch der letzte Schwelbrand um Anerkennung, Lautstärke und Stumpfsinn gelöscht. Umgeben von Handykameras traut Lars sich letztlich sogar, das verbotene Lied zu spielen. Nach Wonderwall klatscht sogar der Gorilla schrill quiekend und hohl Beifall. Als Könige verlassen wir das Biotop, reichlich gesättigt mit Props und Respekt. Tschüüüsch, Digga.
Zurück am Straßenrand. Der gemütlich pfeifende Wind macht das zuvor Gehörte schnell vergessen. Wir atmen durch. Tief. Die prall mit Weiß gefüllten Wolken streicheln die Sinne wie ein Wattebausch. Die Sonne taucht hinter den zahllosen grünen Hügeln langsam ab und hinterlässt ein Bild, fast so gut wie von Bob Ross. Zeit, schlafen zu gehen.
Die Wellen vom Innenstadtstrand hatten mich bereits in den Schlaf geschaukelt, da zwingt mich die Harnblase zum Aufstehen. Mein Rucksack ist dem Urin bereits einen Schritt voraus und hat sich verflüchtigt. Riesenkacke, irgendjemand hat mein Schneckenhaus gezockt!!
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Normalerweise suchen solche Leute nach wertvollen Dingen, Handys und Kameras zum Beispiel. Und normalerweise lassen solche Leute die wertlosen Dinge auch in der nächsten Ecke liegen, wenn sie nicht fündig werden. Und tatsächlich, unter einer gelblich flackernden Straßenlaterne hinter der nächsten Straßenecke werde ich fündig. Die Hüftschnallen meines ständigen Begleiters sind hilflos nach oben gestreckt. Wie ein auf dem Rücken liegender, nach Leben strampelnder Käfer starrt er vom Kopfsteinpflaster aus Richtung Stadthimmel. Pulli und Zahnbürste sind auf der Straße verteilt, die Schuhe im Gebüsch. Es muss ein harter Kampf gewesen sein, Rucksack gegen Dieb, David gegen Goliath, Gut gegen Böse. Nachdem ich meinen kleinen Freund samt Innereien nach und nach wieder zusammengekratzt habe, kehren wir zum Strand zurück und ich lege mich wieder hin. Diesmal wie die Ente, nicht wie das Fette Brot: Statt auf einem Auge blöd, auf einem Auge wach.
Guten Morgen, Sonnenschein!
Gitarre, Ukulele, Jonglierbälle und ein Sack voll gedumpsterter Croissants halten uns tagsüber bei Laune. Mit an Bord jetzt auch Sophia, die allein am Strand geschlafen hatte. Stück für Stück nähern wir uns im Zickzack-Kurs unserem Ziel, Playa de las Catedrales im Norden Galiziens. Dorf für Dorf. Zeit spielt schon längst keine Rolle mehr. Wir reisen durch das Argentinien der 90er, versuchen mit einem Senegalesen illegal nach Europa einzureisen (und schaffen es!) und arbeiten als Lecheros in einer Milchfabrik. Unsere Reise endet nach dem Sonnenuntergang vorläufig neben einer Tankstelle mit Nudeln, Tomatensauce und Croissants. Der Resthunger treibt uns in eine Kleinstadtbar, Bier wird schließlich immer mit Tapas serviert.[singlepic id=2005 w=320 h=240 float=right]
Statt Tapas hat Lars jedoch nach dem ersten Schluck Estrella Galicia eine Gitarre in der Hand und ein Mikrofon vorm Gesicht. Der Barkeeper und gleichzeitiger Besitzer besteht auf eine Gesangseinlage. Zum Glück haben wir im Mannschaftsbus geprobt, das Publikum ist diesmal weitaus größer und älter. Lars geht ab. Er dreht quasi durch. Erst vor der Bar, dann hinter der Bar. Freibier bis 3 Uhr morgens. Dann schließt Porras die Bar und fährt uns die letzten 1,5 Stunden an die Küste. Münder, groß wie ein Scheunentor. Unsere Gesichter tun vor freudiger Fassungslosigkeit fast weh. Mit einer Flasche Wein und dem Geräusch des Atlantiks berauschen wir uns am Moment und schlafen ein.
Aufwachen, Staunen. Steilklippen und saftgrüne Wiesen. Ein Asterix- und Obelix-Comic in Perfektion. Baden gehen.
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Und so lagen wir da, von den Wellen ausgespuckt wie ein zähes Kaugummi. Umgeben von nichts außer Sand und Salzwasser. Wartend auf den Stiefel, dessen Sohle uns aufliest und zum nächsten Zufall trägt.

2 Kommentare
  1. Porsche
    Porsche sagte:

    Geil geil geil, da kann jemand schreiben…
    „…ausgespuckt wie ein zähes Kaugummi… wartend auf den Stiefel, dessen Sohle uns aufliest und zum nächsten Zufall trägt.“ -Du schreibst wie ich denke!

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