Heute präsentieren wir euch die letzte Geschichte unseres Adventskalenders. Ein großes Dankeschön an alle, die mit ihren Geschichten dazu beigetragen haben und ein besonderer Dank an Hannes, Simona, Franzi und Felix für die Übersetzungen und an Gero für die Bilder!
Wie üblich, das Beste zum Schluss:
#26: Tim
Strecke: Westberlin – Münster (Westfalen) Datum: Spätsommer 1989
Wendezeit 1989. Am Ende eines einwöchigen Aufenthalts in Westberlin hatten meine damalige Freundin Heidrun und ich in Kreuzberg noch einmal die Nacht zum Tag gemacht. Als wir aus einem komatösen Schlaf erwachten, stellte ich mit Entsetzen fest, dass es bereits halb eins war und unsere Mitfahrgelegenheit vom Wittenbergplatz vor mehr als einer Stunde nach Münster in Westfalen abgefahren sein musste.
Handys gab es nicht. In der WG meines Kumpels Sven lag kein Telefonanschluss. Zu allem Überfluss war in der Nacht zuvor in unserer Abwesenheit jemand in die Wohnung eingedrungen und hatte meine Kamera und das zurückgelassene Bargeld gestohlen. Als die Kripo eintraf, lachten die Beamten angesichts des Kastenschlosses am Eingang: „Dit mach ick dir inne Sekunde uff.“
Mir waren 20 Mark geblieben. Eine Zugfahrt nach Westfalen war davon nicht zu bezahlen. Am Abend wurde ich in Münster zu einem Gig mit meiner Band „The Subway Surfers“ erwartet.
Also rein in die S-Bahn und raus zum Wannsee. Von dort war es nicht weit bis zur Trampstelle am Rasthof Dreilinden. Als wir in der Bahn saßen, stellten wir fest, dass es ein sonniger Septembertag war. Inzwischen war es kurz vor drei. In gut sechs Stunden musste ich in Münster auf der Bühne stehen. 475 Kilometer. Mir war bewusst, dass wir nur eine Chance haben würden, rechtzeitig dort zu sein, wenn wir einen direkten Lift bekommen würden. Als ich durch die Bäume von der Straße die rotbraune Fassade der Raststätte entdeckte, sah ich das Malheur: An der legendären Trampstelle gen Westen standen an diesem Freitagnachmittag mindestens 200 Leute, die den Daumen in den Wind hielten.
Ein Hippiepärchen hatte am Straßenrand bereits ein Deckchen ausgerollt und veranstaltete ein Picknick. Auf den Korb mit den Lebensmitteln hatten sie ein Pappschild mit den Buchstaben „BEL“ geklemmt. Zwei Mädchen mit Rastafari-Locken sprangen, als wir da unten ankamen, gerade zu einem Lastwagenfahrer auf den Bock. Die meisten Tramper wollten – so stand es zumindest auf ihren Schildern – nach Hannover, in die Universitätsstadt Göttingen und nach Hamburg.
Leute, die direkt nach Münster wollten, waren offenbar nicht darunter. Schüchtern pirschten wir uns an die Straße heran.
Die Stimmung unter den Trampern schien ausgelassen zu sein. Viele Autos, die aus der Stadt kamen, fuhren damals vor Passieren des Checkpoint Bravo noch einmal den Rastplatz an, um nach Mitfahrern Ausschau zu halten. An diesem Freitag war es nicht anders. Im Stop-and-Go-Tempo schlichen die Fahrzeuge vorbei, begutachteten die Schilder und winkten, wenn die Richtung stimmte, die Leute heran.
Meine Freundin und ich hatten kaum unseren Platz eingenommen, als vor uns ein Pärchen von einem Mercedes-Combi mitgenommen wurde. Kaum waren sie bei dem weißhaarigen Banker-Typen eingestiegen, trat dieser aufs Gas und brauste unter dem sarkastischen Applaus der eingenebelten Tramper davon. Hinter dem Benz rollte ein weinroter Passat Combi heran, Baujahr: späte Siebziger. Ich traute meinen Augen kaum, Münsteraner Kennzeichen. Hektisch zerrte ich meine Freundin nach vorne, die ihm das Schild mit den Buchstaben „MS“ vor die Windschutzscheibe hielt. Der schwarzhaarige Typ im Wagen deutete mit dem Finger auf uns: „Ihr wollt nach Münster, na dann, mal rein.“
Als ich auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, riss hinter mir eine Frau – Typ Sozialkundelehrerin – die Tür auf. „Ey, ihr Schweine, ich steh‘ hier schon seit drei Stunden. Und ihr kommt hier angeschissen und steigt einfach ein.“
Der Fahrer blieb ganz ruhig:
„Mädchen, wo willste denn hin?“
„Hannover-Allertal.“
„Na, dann steig ein, da ist doch noch ‘ne Gallone Platz.“
Während ich noch überlegte, wie sich die Maßeinheit Gallone eigentlich in Kubikmetern ausdrücken lässt, fuhren wir ab. Es war halb vier. Wenn wir so durchkommen sollten, wären wir gegen neun in Münster und das Konzert konnte rechtzeitig beginnen.
Als wir den Rastplatz verließen, las ich das Graffiti an der Brücke, wo damals in riesigen weißen Lettern stand:
„You are leaving the american sector.“
Kurz dahinter begrüßte uns ein russischer Weltkriegspanzer, links der Autobahn auf eine Säule montiert war, an der Zonengrenze.
Am Freitagnachmittag herrschte wie immer reger Verkehr. Schon 300 Meter bevor wir unsere Reisepässe abgeben mussten, stiegen wir aus dem Wagen, der Fahrer löste die Handbremse und wir schoben das Auto im Schritttempo an die Zollkontrolle heran.
Jetzt bloß keine Mätzchen, damit uns die DDR-Behörden in Ruhe passieren ließen.
Als der Grenzer die Pässe einsammelte, winkte uns sein Kollege aus der Reihe. Alle Zöllner schienen sächsisch zu sprechen. Warum bekam man es hier eigentlich nie mit Personal aus Berlin oder Brandenburg zu tun? Mit Lanzen, an deren unterem Ende Spiegel befestigt waren, schauten sie unter das Auto. Nach Begutachtung des vollgepackten Kofferraums durften wir weiterfahren, nahmen etwa zweihundert Meter weiter unsere Pässe entgegen und erreichten die Transitstrecke.
Unser Fahrer bretterte den Großteil der Strecke mit 190 Sachen über die löchrige Straße. Zwischendurch bremste er unvermittelt ab, drosselte auf die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h und begann zu winken. Offenbar fuhr er die Strecke öfter und kannte die Stellen, an denen die DDR-Polizei ihre Radarkontrollen aufbaute. Und tatsächlich standen oft auf kleinen Anhöhen hinter einer Böschung schmucke Wartburgs aus denen zwei Herren mit tief ins Gesicht gezogenen Uniformmützen den vorbeirauschenden Verkehr beobachteten.
Aus dem Cassettenteil des Autoradioradios knödelte Bob Dylans LP-Klassiker „Highway 61 Revisted“. Als zum dritten Mal „Like a rolling stone“ begonnen hatte, blickte ich auf die Rückbank des Passats, wo meine Freundin den Schlafmangel von letzter Nacht aufholte und Schulter an Schulter mit der schlechtgelaunten Allertal-Tussi vor sich hindämmerte. Die tiefstehende Sonne zeigte an, wohin wir fuhren. Ich tat es unserem Fahrer gleich, klappte die Sonnenblende nach unten und dachte daran, dass Glück kein Gefühl ist, dass man in sein Herz sperren kann, um es dort je nach Bedarf wieder hinauszulassen.
Glück muss man empfinden, wenn es passiert.
Und ich in diesem Moment war ich glücklich. Denn ich fühlte mich jung – was in meinem Leben nur sehr selten vorkommt – wahrscheinlich, weil ich es damals war. Und ich fühlte mich leicht, denn wir rollten dahin, vier Menschen vereint vom Zufall, auf einer Reise mit unterschiedlichen Zielen. Menschen, die sich danach nie mehr im Leben gemeinsam reisen würden, unterwegs durch ein unfreies Land im rasanten Tempo der Freiheit.
Ich machte es mir im schmuddeligen Sitz des weinroten Passats gemütlich. Am Abend würde ich Rock’n’Roll spielen mit meinen Freunden. Und später würde ich meine Freundin küssen, die zwar Heidrun hieß, in meinen Augen aber so schön war, als hieße sie Sophie oder Angelina oder so. Der Passat schnurrte. Dylan knödelte. In Allertal tauchte die Sonne unsere Verabschiedung von der Sozialkundelehrerin in sanfte Bonbonfarben.
Als uns der Fahrer am Münsteraner Bahnhof absetzte, rief er: „Wir sehen uns…“ Heute sagt man das so, damals hörte ich es das erste Mal. Und mir wurde klar: Auf der Straße sieht man sich wohl immer irgendwie, irgendwo, irgendwann mal wieder. Von dem guten Gefühl, unterwegs zu sein, kommt ein Mensch nur schwer wieder los, wenn es ihn einmal gepackt hat. Ich bin jetzt 47. Ich trampe nur noch sehr selten. Aber ich spiele immer noch Rock’n’Roll mit meinen Freunden und küsse gern meine Freundin. Und wenn ich in den Bandbus steige und die Tür hinter mir zugeht, die Musik aus der Anlage schallt und die Sonne über den vorbeiziehenden Bäumen im Westen untergeht, denke ich daran, wie viel Schwein wir damals in Dreilinden hatten.
Und ich frage mich, was unsere Mitfahrer von damals wohl machen?